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- Veröffentlicht am Freitag, 10. November 2023 13:37
Gedenstätte für ermordete und nach Gurs verschleppte Speyerer Juden. - Bild by Bernhard Bumb/Archiv
9./10. November 1938 - 2023 / Vor 85 Jahren wurde im Auftrag der Nazis auch die Speyerer Synagoge zerstört / Speyerer Juden von Nazis verfolgt und ermordet / Schweigemarsch und Kundgebung
Rede der Oberbürgermeisterin von Speyer Stefanie Seiler anlässlich der Gedenkveranstaltung des DGB zur Reichspogromnacht am 9. November 2023
- Es gilt das gesprochene Wort -
Sehr geehrter Herr Elfert, sehr geehrter Herr Dr. Becker, sehr geehrte Frau Nikiforova, meine sehr verehrten Damen und Herren,
auf die Frage eines Journalisten, ob auch sie nach der Reichspogromnacht wussten, dass sie als jüdische Familie nicht mehr in Deutschland bleiben konnten, antwortete die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer, die vor vier Tagen 102 Jahre alt wurde, wie folgt:
„Mein Vater fühlte sich – die ganze Familie – sehr deutsch, wir war natürlich in Deutschland geboren. Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, hat einen Bruder für Deutschland verloren. Er war hoch ausgezeichnet mit Verwundetenabzeichen und das Eiserne Kreuz zweiter Klasse. Meine Mutter hatte einen Bruder, der für Deutschland im Krieg gefallen ist. Mein Vater sagte immer, sie meinen uns nicht. Wie konnte er sich so irren!“
Margot Friedländer ist in Berlin aufgewachsen. Sie wurde als Jüdin verfolgt und tauchte Anfang 1943 in Berlin unter. Während ihr Bruder Ralph und ihre Mutter ermordet wurden, überlebte sie versteckt in der Hauptstadt. Nach etwa einem Jahr aber wurde sie dann doch von den Nazis gefasst und ins Getto Theresienstadt verschleppt. Auch dieses KZ hat sie überlebt.
Für Sie sowie für die meisten deutschen Jüdinnen und Juden war der 9. November 1938 ein Wendepunkt. Denn auch wenn es in den Monaten zuvor schon zu Übergaben von Synagogen kleinerer Gemeinden an „arische" Besitzer kam und bereits im Sommer 1938 Synagogen in München, Nürnberg und Dortmund zerstört wurde, war das, was nun kam so schrecklich und grausam, dass es viele nicht wahrhaben wollten, nicht wahrhaben konnten.
Wie die Familie von Margot Friedländer so fühlten sich die Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht anders als andere deutsche Staatsbürgerinnen und deutsche Staatsbürger. Wieso auch? Viele von Ihnen hatten im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und nun waren sie es, die zur Zielscheibe wurden und nicht mehr gewollt waren.
Es wurde deutlich, dass Nazi-Deutschland Jüdinnen und Juden nicht nur ausgrenzen, sondern auslöschen wollte. Und es wurde offenkundig, was das menschenverachtende Ziel des nationalsozialistischen Regimes war. 91 Menschen wurden unmittelbar in dieser Nacht ermordet, in den Tagen und Wochen danach starben viele weitere an den Folgen der schweren körperlichen Misshandlung oder nahmen sich in der Verzweiflung das Leben.
Unter den 1.200 Gebetshäuser und Synagogen, die niedergebrannt wurde, war auch die 101 Jahre alte neuzeitliche Synagoge in Speyer. Zahlreiche Geschäfte auf der Maximilianstraße wurden zerstört und der jüdische Friedhof wurde geschändet. Das Grauen, es war auch hier in unserer Stadt angekommen und sichtbar. Und das obwohl jüdisches Leben bereits seit dem Mittelalter in unserer Stadt präsent war.
Mit der Zerstörung der Speyerer Synagoge und der Unterstützung der Bevölkerung für diesen Akt des blinden Hasses wurde den Jüdinnen und Juden deutlich gemacht, dass sie nicht mehr als Teil der Stadtgesellschaft angesehen wurden und es war der Beginn der Entmenschlichung von aktiven Bürgerinnen und Bürgern der deutschen, der Speyerer Gesellschaft.
Diese Entmenschlichung, diese Menschenverachtung bahnte sich ab diesem 9. November 1938 ihren Weg und leitete das dunkelste Kapitel unsere Geschichte ein. Von den 60 im Oktober 1940 noch in Speyer lebenden jüdischen Menschen wurden 51 am 22. Oktober desselben Jahres nach Gurs in Südfrankreich deportiert. Danach gab es in Speyer keine jüdische Gemeinde mehr. Es dauerte Jahrzehnte bis jüdisches Leben in unserer Stadt wieder sichtbar wurde.
Am heutigen Tag gedenken wir der Reichspogromnacht und allen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die unter der faschistischen, menschenverachtenden NS-Diktatur gelitten haben, enteignet, vertrieben, entmündigt und ermordet wurden. Wir bitten Sie und Ihre Nachfahren um Verzeihung für etwas, das nicht verziehen werden kann und aus dem wir deshalb für immer unsere Lehren zu ziehen haben.
Das ist allen voran, der aktive, fortlaufende Kampf gegen Antisemitismus und das Eintreten immer dann, wenn antisemitische Äußerungen und Taten in unserer Stadt und unserem Land geschehen. Dabei sind wir alle gefordert! Alle Speyrerinnen und Speyerer sowie alle Demokratinnen und Demokraten. Wir sind gefordert uns gegen jegliche Form des Extremismus zu stemmen und menschenverachtenden Tendenz mit klarer Haltung zu begegnen.
Es schmerzt mich daher sehr, wenn ich höre, dass auch heute wieder Jüdinnen und Juden Angst haben, auf der Straße hebräisch zu sprechen, ihre Kinder in die jüdische Kita zu bringen oder die Kippa zu tragen. Es schmerzt mich, dass Jüdinnen und Juden sich in diesen Tagen an 1938 erinnert fühlen und Familientraumata plötzlich wieder lebendig werden.
Als Oberbürgermeisterin, als Bürgerin dieser Stadt, als Ehefrau und Mutter bin ich am heutigen Tag daher in Gedanken, bei all jenen Jüdinnen und Juden, die geliebte Familienmitglieder verloren haben und die unter der Nazi-Herrschaft unmenschliches Leid erfahren mussten.
Und ich bin bei all jenen, die sich auch heute 85 Jahre nach der Reichspogromnacht nicht mehr zu 100 Prozent in Deutschland sicher fühlen. Es beschämt mich, dass dem so ist. Denn jüdisches Leben gehört zu Deutschland und gehört zu Speyer – ohne wenn und ohne aber und wir müssen und werden es schützen!
Am heutigen Tage denke ich aber auch an unsere israelischen Freundinnen und Freunden in unserer Partnerstadt Yavne, deren Leben aus den Angeln geworfen wurde. An die Menschen, die infolge des bestialischen Angriffs der Terrororganisation Hamas unermessliches Leid erfahren haben, die geliebte Menschen betrauern oder noch immer nicht wissen, wohin ihre Liebsten verschleppt wurden oder ob sie überhaupt noch am Leben sind.
Wir stehen an der Seite unserer israelischen Freundinnen und Freunden, an der Seite alle Jüdinnen und Juden. Allen voran unserer Jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz, die ebenfalls Angriffe fürchtet und die wir mit allen Mitteln schützen müssen. Sie gehören zu unserer Stadt, die Synagoge gehört zu unserer Stadt und wir stehen solidarisch an ihrer Seite.
Wir stehen für Frieden und Freiheit und für Menschlichkeit, die zwischen 1933 und 1945 bereits einmal verloren gegangen ist - mit schrecklichen Folgen für die jüdische Bevölkerung, für Sinti und Roma, für Menschen mit Behinderung und viele mehr, die nicht in das Schema nationalistischer Wahnvorstellungen gepasst haben.
Was wir 1938 hätten tun müssen, ist heute unsere menschlichste Pflicht: wir müssen gegenhalten und unsere freiheitlich, demokratische Grundordnung verteidigen, in der Toleranz und das friedliche Miteinander der Religionen die Basis unseres Zusammenlebens sind.
Antisemitismus und Rassismus haben in unserer Stadt keinen Platz und das gilt für alle, die hier leben! Unsere Antwort auf Antisemitismus muss eine klare Haltung sein und kein Rassismus gegen Muslime oder andere Gruppen. Denn beide nähren sich aus der gleiche Quelle. Sie wollen andere Menschen entmenschlichen, auszugrenzen, diskriminieren oder gar auslöschen. Und diese Entmenschlichung kann nie die Antwort sein, im Gegenteil sie wird nur für noch mehr Hass und Angst in unsere aller Leben führen.
Umso mehr dürfen nicht wegsehen und müssen uns dafür einsetzen, dass das Menschliche zählt. Entsprechend froh bin ich auch, dass heute so viele hier sind und genau das tun. Wir zeigen Menschlichkeit und Mitgefühl und wir setzen ein deutliches Zeichen gegen jeglichen Extremismus, gegen Faschismus, Rassismus und insbesondere gegen Antisemitismus.
Mein Dank geht an Sie alle, dass sie hier sind und dieses Zeichen aussenden. Danke auch an den DGB, dass er wie in jedem Jahr das Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht wachhält und die Veranstaltung organisiert.
Ein verantwortungsvoller Umgang mit unserer Geschichte, das Erinnern an die Unmenschlichkeit des 9. November 1938 ist wichtig und wird nie aufhören. Auch und gerade in diesen Tagen. Weder gegen Jüdinnen und Juden noch gegen Menschen anderer Religion, Hautfarbe oder Herkunft darf sich dieser Hass wieder Bahn brechen.
Nie wieder heißt nicht nur von nie wieder sprechen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sich jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger nie wieder so unsicher und unmenschlich wie 1938 fühlen. Und das heißt auch, sich klar zu machen, dass Antisemitismus nichts ist, was es jetzt wieder gibt. Sondern das es leider etwas ist, was es schon immer in unserer Gesellschaft gab und wir deshalb noch aktiver und klarer sein müssen, wenn es darum geht, Antisemitismus zu erkennen, ihn zu benennen und sich ihm entgegenzustellen.
Das sind wir den Speyerer Jüdinnen und Juden schuldig und das ist oberste Pflicht von uns Demokratinnen und Demokraten, von uns Menschen, die für Menschlichkeit stehen. Denn wie Margot Friedländer, die mit 88 Jahren nach Deutschland zurückkehrte und seither wichtige Aufklärungsarbeit betreibt, treffend sagt:
„Wir sind alle gleich – es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut. Es gibt nur menschliches Blut. Wir kommen alle auf diese Art und Weise auf diese Welt. Wir sind Menschen, nichts anderes. Seid doch Menschen!“ - Vielen Dank!
Anmerkung/Speyer-Report: Frau Nikiforova ist Geschäftsführerin der Jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz, Axel Elfert ist Vorsitzender DGB Speyer, Herr Dr. Becker ist stell. Archivleiter Stadtarchiv Ludwigshafen am Rhein.
Der Schweigemarsch vom Georgsbrunnen bis zur Gedenkstätte und die dortige Kundgebung wurden traditionsgemäß vom Speyerer DGB veranstaltet. - bb